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Thies Gleiss

Thies Gleiss ist Gründungsmitglied der WASG und der Partei Die Linke. Mitglied im Parteivorstand und im Sprecher*innenrat der Antikapitalistischen Linken (AKL)

 

Feminismus ist für mich nicht weniger als die Erringung eines Bewusstseins dieser strukturellen Unterdrückung und Ungleichheit der Frauen in allen Gesellschaften und auf allen Ebenen im heutigen Kapitalismus.

 

Meine Antworten auf die LISA-Fragen zu meiner Bewertung des Feminismus

  • Welche Bedeutung hat Feminismus für dich?

Der real existierende Kapitalismus, die bis in den letzten Winkel der Welt dominierende gesellschaftliche Produktionsweise, ist ein Komplex von Widersprüchen, die seine Dynamik und Entwicklungsrichtung bestimmen. Der Kapitalismus teilt die Menschen in Klassen, die sich in einem unauflösbaren Widerspruch befinden: Privateigentum an den Produktionsmitteln für die Einen, Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft als Ware für die anderen – ein gemeinsames Interesse gibt es da nicht. Allerdings fließen in diese moderne Klassenteilung eine Fülle weiterer gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte ein, die teilweise viel älter sind als der Kapitalismus selbst.

Die mehr oder weniger gewaltsame Enteignung und Entwaffnung der Frauen durch die Männer ist die erste Klassenteilung in der Geschichte der Menschheit, die in den meisten Teilen der Welt schon in frühen Phasen nach der neolithischen Revolution (des Beginns des Ackerbaus) begann. Sie ist heute keineswegs aufgehoben, sondern prägende Eigenschaft in allen modernen Gesellschaften. Jahrtausende lang haben diverse ideologische und theologische Ideengebäude diese Unterwerfung der Frauen untermauert, die Köpfe der Menschen verwirrt, und sind in alle folgenden Klassengesellschaften mehr oder weniger modifiziert übernommen worden. Sowohl die politischen Herrschaftsstrategien der besitzenden Klasse, als auch die Konkurrenzkämpfe innerhalb der Arbeiter*innenklasse benutzen diese ideologische Verwirrung zur Sicherung von Macht und Privilegien.

Feminismus ist für mich nicht weniger als die Erringung eines Bewusstseins dieser strukturellen Unterdrückung und Ungleichheit der Frauen in allen Gesellschaften und auf allen Ebenen im heutigen Kapitalismus. Diese strukturelle Ungleichheit macht auch vor den Institutionen nicht halt, die eigentlich für den Kampf gegen den Kapitalismus geschaffen wurden: Gewerkschaften und Arbeiter*innenparteien und andere linke Organisationen. Deshalb muss jeder gegen den Kapitalismus gerichtete Emanzipationskampf immer auch einen unabhängigen (autonomen) Anteil von Frauenkämpfen und Mobilisierungen enthalten. Ich bin mit der – in der starren Formulierung etwas hilflosen, aber dennoch richtigen – Losung politisch aufgewachsen: Keine Befreiung der Frau ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne die Befreiung der Frau.

  • Mit welchen Argumenten würdest du für Feminismus werben?

Ich werbe nicht für den Feminismus. Er ist (müsste sein) integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, an denen ich mich beteilige. Ich versuche, ihn nicht zu sehr zu stören und zu dominieren.

Wie integrierst du feministische Anliegen in deinen Alltag?

Siehe oben. Ich integriere den Feminismus nicht in meinen Alltag. Er ist da und tritt in verschiedenen Formen auf – vom privaten Beziehungsleben, über den Alltag im Viertel, die Arbeit in Betrieben und Büros bis zu dem Engagement in Gewerkschaft und Partei. Ich versuche, ihn überall solidarisch in der politischen Perspektive und dem praktischen Verhalten nicht zu sehr im Wege zu stehen. Und wenn das zuweilen der Fall ist, dann soll er mich zur Seite schubsen.

  • In welcher Weise bringst du Feminismus in deine politischen Themen ein?

Meine hauptsächlichen Betätigungsfelder sind die Gewerkschaftsarbeit und die Umweltbewegung. In beiden Gebieten ist es die wichtigste Kampfbedingung, dass alle Betroffenen gleichberechtigt und mit ihren Anliegen mitmachen können. Gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit – ist ein immer noch nicht eingelöstes Forderungspaket. Eine Tarifrunde ohne spezielle Forderungen gegen die Ungleichbehandlung der Frauen, wäre falsch, findet dennoch immer wieder statt. Die strukturelle Unterdrückung der Frauen und die tief verwurzelte Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen ist ohne eine radikale Arbeitszeitverkürzung nicht aufzuheben. Mehr Zeit für das Leben – ohne das wird eine Zerschlagung überlieferter Rollen nicht möglich sein. Da unterstütze ich sehr die Ideen von Frigga Haug mit ihrer 4-in-1-Perspektive.

In den Gewerkschaften, wie in den linken Organisationen, ist die strukturelle Dominanz der Männer nur durch autonome Frauenstrukturen und Sturz der Paschas von ihrem Thron zu durchbrechen. Eine radikale Quotierung in den Führungspositionen auf allen Ebenen ist dabei ein Mittel, ohne das es wohl nicht gehen wird.

In der Umweltbewegung ist die ganzheitliche Sicht auf komplexe ökologische Prozesse die unerlässliche Grundvoraussetzung der Kämpfe. Hier ist die feministische Perspektive von Beginn an die dominierende, wird aber auch hier immer wieder durch „Männertheorien“ bedrängt. 

  • Welche Frage bewegt dich, wenn es um das Thema Feminismus geht?

Alle Fragen, die der Feminismus bewegt und die ihn bewegen.

  • In welcher Weise beeinflussen nach Deiner Einschätzung die Entscheidungen, die während der Pandemie getroffen worden sind, die Situation von Frauen?

Die Pandemie-Krise, die heute die gesamte Welt erschüttert, zeigt wie ein Vergrößerungsglas das unmittelbare Funktionieren des Kapitalismus: Wer hat zu entscheiden, was zu entscheiden ist; wer entscheidet, wer entscheidet und letztlich wer entscheidet.

In jeder Hinsicht beeinflussen die Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Frauen den Verlauf der Corona-Krise und ebenso die Wirkungen der Krisendämpfungspolitik. Wenn die sozialen Kontakte minimiert werden, sind es die Frauen, die die daraus entstehenden emotionalen und sozialen Defizite zuerst ausgleichen müssen. Führt die Reduzierung der sozialen Kontakte zu einer Aufwertung der Einzelhaushalte und Kleinfamilien, sind es die Frauen, die dieses Mehr an Hausarbeit und Sorgearbeit zu verrichten haben. Werden in den Betrieben und Büros Arbeitsplätze abgebaut, sind es fast immer die Frauenarbeitsplätze als erstes. Werden Vollzeitstellen prekarisiert, betrifft es die Frauen. Werden in der Krise bestimmte Care- und Versorgungstätigkeiten in Pflege, Einzelhandel und Logistik ausgedehnt, sind es die Frauen, die einen großen Teil der Mehrarbeit zu verrichten haben.

Die Widersprüche des Kapitalismus verdichten sich in einer solchen umfassenden Krise. Es ist kein Zufall, sondern Notwendigkeit, dass deshalb gerade dann die Notwendigkeit einer feministischen Revolution offenkundig wird.

Thies Gleiss, Köln 03.03.2021

Lieber Thies die BAG LiSA dankt dir herzlich für Deinen Beitrag